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Die reisenden Frauen

Pünktlich und gut gelaunt treffen wir uns an einem kalten Novembermorgen am Bahnhof Bern. Aus der ganzen Schweiz angereist, sind wir gespannt auf den Seminartag. Ob es wohl am Titel des Seminars («Frauen - aus drei Blickwinkeln») liegt, dass wir nur Teilnehmerinnen sind? Wir lassen das so stehen und machen uns auf den Weg zu unserem Seminarort, der Gosteli-Stiftung in Worblaufen. Das Motiv der reisenden Frauen wird uns den ganzen Tag begleiten und immer wieder auftauchen.


In der Gosteli-Stiftung empfängt uns Monika Bill und gibt uns zuerst in der Bibliothek einen Einblick in das imposante Archiv der schweizerischen Frauenbewegung. Marthe Gosteli hat ihr Lebensthema, die politische und gesellschaftliche Stellung der Frauen, in ein Archiv überführt. Im Alter von 65 Jahren gründet sie das Archiv in ihrem Wohnhaus und versammelt darin die Unterlagen zur Frauenbewegung. Der Bestand setzt sich aus Archiven verschiedener Frauenorganisationen und Privatpersonen zusammen. Hinzu kommen biografische Notizen und eine umfangreiche Bibliothek. Neben den Papieren gibt es auch Fotos, Dias und Filme.


Monika Bill führt uns dann durch das Haus und erzählt einige Anekdoten aus dem Leben von Marthe Gosteli, mit der sie lange zusammengearbeitet hat. Die Plakatsammlung zum Frauenstimmrecht schmückt das Treppenhaus. Das Leben von Marthe Gosteli ist eng mit dieser Abstimmung verbunden, umfasst aber sehr viel mehr. Als Bauerntochter zog sie in die Welt hinaus (eine reisende Frau!), während des Zweiten Weltkriegs arbeitete sie bei der Presse- und Rundfunkabteilung des Armeestabs, danach leitete sie die Filmabteilung der amerikanischen Botschaft. Ab den 1940er Jahren engagierte sie sich politisch in der Frauenbewegung und war Präsidentin verschiedener Organisationen. Ihr Leben war geprägt von einer unermüdlichen Auseinandersetzung mit der Stellung der Frauen und ihrem Kampf um Gleichberechtigung. Marthe Gosteli starb 2017 in ihrem 100. Lebensjahr.


(Marthe Gosteli, Bildquelle: Wikipedia/Elsbeth Boss)


Im Haus sind momentan Biografien von reisenden Frauen ausgestellt. Schon wieder begegnen uns Frauen, die unterwegs waren. Eine davon ist Lina Bögli, eine Weltreisende Ende des 19. Jahrhunderts. Sie bereiste Europa, später Amerika, Australien, die Südsee und Asien. Wenn es ihr gefiel, machte sie Halt, arbeitete eine Weile an einem Ort und zog dann mittels des erarbeiteten Lohns weiter. Über ihre Reisen veröffentlichte sie zwei Bücher. In der Ausstellung begegnen wir weiteren reisenden Frauen und staunen über die überwundenen Hürden und erreichten Erfolge der Frauen vor uns. Die Archivschachteln locken uns, sie zu öffnen und sich den Rest des Tages in diese Zeugnisse zu vertiefen. Doch schliesslich überwiegt die Neugier auf die anderen Seminarinhalte und wir lassen die Archivschachteln stehen.


Zum Mittagessen spazieren wir ein paar Minuten durch die kühle Novembersonne und besprechen dabei die Eindrücke des Morgens. Beim Essen geht es dann wieder um andere Themen und wir lachen viel. In fröhlicher Stimmung kehren wir zurück zur Gosteli-Stiftung, den zweiten Teil unseres Seminars dürfen wir im Sitzungszimmer im Dachstock abhalten.


Zunächst hören wir einen Vortrag von Karin Detmer über Frauen in der Psychologie. Schon ihre erste Frage trifft den Kern des Themas: «Welche Psychologinnen kennt ihr?» In der anschliessenden Diskussion wird klar, wie gross unsere Wissenslücke ist. Karin Detmer erzählt uns von den Anfängen der Psychologie und der Entwicklung des Fachgebiets. Als Beispiel einer bekannten Psychologin lernen wir Marie Jahoda kennen. Mit ihrer Arbeit an der Marienthalstudie gilt sie als Pionierin der Sozialpsychologie. Darin untersuchte sie gemeinsam mit anderen Psychologen die Auswirkungen der Langzeitarbeitslosigkeit auf Betroffene. Der empirische Ansatz der Studie, die Feldforschung, gilt heute noch als Meilenstein in der Sozialforschung. Karin Detmer schliesst mit einem Blick auf das heutige Berufsbild der Psychologin. Daraus entwickelt sich die Diskussion, inwieweit die Bedingungen in Ausbildung und Berufsleben damit zusammenhängen, dass es sich um einen frauendominierten Beruf handelt. Wir knüpfen an die Themen des Vormittags an.


Der dritte Beitrag des Tages beschäftigt sich mit Leopoldine von Habsburg, der Kaiserin von Brasilien. Pia Casanova nähert sich der historischen Figur über ihre politische Wirkung für Portugal und Brasilien. Leopoldine war eine weitere verschacherte Habsburgertochter in einer Reihe ähnlicher Schicksale. Sie heiratete 1817 den portugiesischen Thronfolger Dom Pedro. Sie liessen sich in der Kolonie Brasilien nieder, um das Land als Königreich für Portugal zu verwalten. In den folgenden Wirren der Unabhängigkeitsbewegungen setzte sich Leopoldine für die Unabhängigkeit des Landes ein. Sie geniesst dort noch heute den Status einer Ikone. Pia Casanova untersucht, wie gross Leopoldines Einfluss tatsächlich war und welches ihre Möglichkeiten als Frau zu damaliger Zeit waren. Nach einem Tag voller Gespräche über Gleichstellung sind wir irritiert angesichts des Grads von Fremdbestimmtheit, dem Leopoldine unterworfen war.


Was bleibt, sind ein Kopfschütteln und der Blick ins Gosteli-Archiv. Dank dem Engagement von Marthe Gosteli und vielen weiteren Frauen steht die Frauenbewegung heute an einem anderen Punkt. Offen bleibt die zukünftige Entwicklung unserer Gesellschaft. Mit diesen Gedanken und angefüllt mit neuem Wissen treten wir die Heimreise an. Am Bahnhof Bern beschliessen wir den Tag mit einem Apéro und freuen uns schon jetzt auf die nächsten Seminare und Ausflüge des Vereins. 


Links:

·        Gosteli-Stiftung

·        Zentrum Lina Bögli

·        Biografie Marie Jahoda 

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